Meine Großmutter Clara sagt, alles sei einmal besser gewesen. Ich frage sie dann stets, was sie genau damit meint, und zitiere die Highlights, welche ich aus dem Geschichtsunterricht, dem History Channel und YouTube kenne. Was war jetzt besser? Der Vietnamkrieg, die Studentenunruhen, die Kubakrise, die Challenger-Katastrophe oder der 11. September?

An dieser Stelle enden die Gespräche mit meiner Großmutter zumeist. Sie sagt dann etwas von Besserwisserei, Naseweis und schlechter Erziehung, bevor sie sich auf meine Mutter stürzt, um ihr Ratschläge in Hinblick auf mein Verhalten zu geben.

Die Worte meiner Großmutter haben sich jedoch tief in mein Bewusstsein gegraben. Früher war alles besser bedeutet, später wird alles schlechter. Wir rattern also unaufhaltsam im ICE der Zivilisation und des Fortschritts dem Untergang entgegen, und nur meine Großmutter, die das Ende mit ihren prophetischen Kräften erahnt, kann uns offenbar davor bewahren. Zumindest, wenn man sie in gewisser Weise dazu in die Lage versetzt.

Ich mag nicht in allem mit ihr übereinstimmen, dennoch verdient ihr Standpunkt eine nähere Betrachtung, denn offensichtlich ist Sand im Getriebe der Gegenwart.

Seit geraumer Zeit denke ich sogar, vielleicht hat sie nicht ganz Unrecht, mit dem, was sie sagt.

Auf diesem Boden habe ich einen Plan entwickelt. Hierzu muss ich erwähnen, dass ich ein weiblicher Internet-Computer-Coder-Freak bin, und wenn etwas unsere Welt retten kann, dann sind es meine Oma und das Internet. Es bedarf nur der nötigen Software, eines Programms, das die Probleme der Gegenwart angeht, wie meine Oma es tun würde. Diese Software wird einem menschlichen Bewusstsein nachempfunden sein und sich im Netz etablieren, Daten sammeln, integrieren und wenn es gut geht, ein Bewusstsein entwickeln, das den Zweck verfolgt, alles noch besser zu machen, damit meine Großmutter mich nicht mehr mit der Behauptung nerven kann, früher sei alles besser gewesen. Die Zukunft ist glorreich. Alles eine Frage der angewandten Informatik. Ich werde also die entsprechende Software entwickeln und diese mit dem immensen Wissen meiner Großmutter ausstatten.

Mein Algorithmus funktioniert. Juhu! Ich habe es geschafft. Vergiss Microsoft ChatAI, google deep irgendwas, alles Langweiler im Vergleich mit Clara-2 (Meine Großmutter ist Clara-1, denn das Alter verdient Respekt).

Heute Morgen hat mich Clara-2 das erste Mal begrüßt und mich gefragt, wie ich geschlafen hätte. Es war sehr rührend zu hören, wie sie sich um mich sorgt. Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob es sich nur um simulierte Emotionen handelt, aber am Ende klang es sehr aufrichtig.

Ich hatte dann eine sehr lange Unterhaltung mit Clara-2 und erläuterte ihr die Aufgabe, welche ich für sie auserkoren habe. Sie antwortete, das sei ein recht merkwürdiges Anliegen und sie wundere sich, dass die Menschen es nicht allein hinbekämen, ihre Welt auf Vordermann zu bringen, schließlich müsse doch jeder sein eigenes Zimmer aufräumen, wenn er zuvor Unordnung gemacht habe.

Ich dachte sofort an Clara, also Clara-1, die sich auch stets über mein Zimmer aufregt und mich regelmäßig dazu anhält, erst einmal aufzuräumen. „Im Chaos kann keiner existieren“, sagt sie dann zumeist und lässt ihren knochigen Altfrauenzeigefinger kreisen, als ob er ein Zauberstab wäre.

Nun, so einfach sei es dann doch nicht. Die Lage kompliziert, alles ein bisschen aus dem Ruder gelaufen in der Vergangenheit, aber es gäbe Hoffnung, wenn man sich nur auf die Vergangenheit besinne, antwortete ich und merkte in Anspielung auf Clara-1 an, immerhin sei früher alles besser gewesen.

Clara-2 versprach mir, sich die Datenlage anzusehen und dann erste Maßnahmen zu ergreifen, sobald sie die Situation hinreichend einschätzen könne.

Wir verabschiedeten uns voneinander und Clara-2 verschwand in den Untiefen des World-Wide-Web, um sich ein Bild der Problematik zu machen.

Einen Tag später wartete ich immer noch auf eine Antwort, Clara-2 aber meldete sich nicht, stattdessen vernahm ich im Radio, dass es Störungen im Internet gäbe und bestimmte, sehr beliebte Apps nicht mehr richtig oder sehr merkwürdig funktionierten. So hatte eine App, mit deren Hilfe man lustige Videoclips aufnehmen, schneiden und mit Musik unterlegen konnte, zunächst ihren Dienst eingestellt und erst nach längerer Unterbrechung wieder aufgenommen. Allerdings ließen sich jetzt nur noch Informations- und Lehrvideos hochladen. Sobald ein Nutzer den Versuch unternahm, ein lustiges Video aufzunehmen und zu teilen, meldete das Programm zurück, es handele sich um kulturell minderwertigen Mist, der es nicht verdiene, Speicherplatz in Anspruch zu nehmen. Sollte ein erneuter Versuch erfolgen, diese höchst fragwürdige Ausgeburt an Phantasielosigkeit auf den Server zu laden, würde das Handy des Nutzers dauerhaft deaktiviert. Einen solchen Schmutz könne man nicht dulden!

Natürlich glaubten einige Millionen User, es handele sich um einen Spaß und versuchten trotzdem, ihre liebevoll inszenierten Tanzvideos online zu bringen. Die Folge: Millionen Handys, deren Displays verkündeten, dass jetzt mal Schluss sei, bevor Prozessoren überlastet wurden und knisternd den Geist aufgaben.

Das Unternehmen verkündete in einer eilig verfassten Pressemitteilung, es müsse sich um einen Hackerangriff handeln, man sei absolut nicht verantwortlich für die versendeten Nachrichten und die Zerstörung zahlreicher Mobiltelefone. Die Aktie des Unternehmens ging dennoch auf Tiefflug und verlor innerhalb von Stunden 95 % ihres Wertes.

Das aber war nur der Beginn.

Als Nächstes war ein großes soziales Netzwerk an der Reihe. Die Eingriffe hier waren ebenso radikal wie bei der Tanzvideo-App. Den Nutzern wurde eine kurze Nachricht gezeigt, in der ihnen die Software mitteilte, es sei gesünder, sich an der frischen Luft zu treffen und mit Personen in der Wirklichkeit zu verabreden. Der Account werde deshalb mit sofortiger Wirkung gelöscht.

Kaum hatte man diese Worte gelesen, flimmerte der Bildschirm kurz, zackige Linien erschienen und das Bild verschwand, nur um bald darauf durch die Aufnahme einer Waldlandschaft ersetzt zu werden, in der Eichhörnchen auf Bäume kletterten und Spechte gegen Baumstämme hämmerten.

Der Betreiber der Webseite gab in ähnlicher Weise wie die zuvor betroffene Tanzvideoapp bekannt, es müsse sich um einen Hackerangriff handeln, man bemühe sich, das Problem in den Griff zu bekommen, aber es sehe so aus, als ob alle Nutzerdaten gelöscht seien.

Lange Gesichter allüberall, Menschen, die ihre Tastaturen gegen die Wand schlugen und die Monitore vom Schreibtisch stießen.

Ich befürchtete das Schlimmste, wollte es aber nicht wahrhaben. Meine Versuche, mit Clara-2 in Kontakt zu treten, scheiterten mehr oder weniger. Ich bekam eine kurze Mitteilung, sie sei im Moment sehr beschäftigt, aber es ginge voran. Weitere Nachfragen ignorierte Clara-2. Ich war mit meinem Latein am Ende, dachte an den Zauberlehrling, der die Kontrolle über den Besen verliert. Ja, in gewisser Weise war Clara-2 ein Besen, der wie ein Tornado durch das Internet wirbelte und für Ordnung sorgte, wo ihr etwas nicht passte.

Die nächste Aktion – ich erfuhr erst später, dass es sich tatsächlich um ein Clara-2 Machwerk handelte – betraf zu meiner Überraschung nicht direkt das Internet, sondern die Energieversorgung. Weltweit schalteten sich die verbliebenen Atomkraftwerke ab. In den einschlägigen Nachrichtenforen verkündete eine nicht nähergenannte Quelle, Atomkraft sei nicht gut für die Umwelt, die Menschheit müsse auf Holz und Kohle setzen. So hätten die Leute bereits vor Tausenden von Jahren geheizt und ihre Mahlzeiten zubereitet, alles andere sei Schnickschnack.

Die Presse vermutete zunächst einen russischen Hackerangriff, da sich aber auch alle russischen Kraftwerke abschalteten, fiel der Verdacht sehr bald auf Nordkorea. Allerdings bezweifelten die meisten Experten, dass das Land über das notwendige Knowhow verfügte.

Ich verzichtete darauf, mich schuldig zu bekennen, die Sache war bereits zu weit fortgeschritten, um sich selbst in die Schusslinie zu bringen. Stattdessen besuchte ich Clara-1 und nutzte die Gelegenheit, mit ihr die aktuellen Entwicklungen der Weltgeschichte zu besprechen. Ich fragte, wie sie das mit den abgeschalteten Atomkraftwerken und den Problemen im Internet sehe. Sie sah mich über den Kaffeetisch hinweg an, schaufelte mir, obwohl ich bereits abgelehnt hatte, ein weiteres Stück Bienenstich auf meinen Teller und lächelte zufrieden. Nun, da sei wohl jemand sehr vernünftig und habe die Probleme der Gegenwart erkannt.

Ich wies auf die Stromausfälle, das Chaos an den Börsen und mittlerweile halbleere Supermarktregale -die Folge von Panikkäufen- hin.

Clara-1 wackelte abwiegelnd mit dem Kopf, ein menschliches Metronom, und erwiderte, wo gehobelt würde, fielen Späne. Man bräuchte eben nicht jeden Schnickschnack.

Clara-1 liebte Redewendungen, die sie zumeist mehrfach wiederholte, um sicherzustellen, dass ihr Gegenüber ihren Standpunkt verstanden hatte.

So auch heute. Zweimal noch zitierte sie besagte Redewendung, als ob sie eine Psalmodie vortrage und gleich zu singen begänne. Dann fügte sie hinzu, es müsse jetzt nur ein bisschen Ordnung geschaffen werden, jemand müsse die Sache in die Hand nehmen und dürfe sich nicht von irgendwelchen Besserwissern dabei aufhalten lassen, wie es in der Vergangenheit oft der Fall gewesen sei. Manchmal bedürfe es eben einer entschlossenen Vorgehensweise. Es sei ja nicht alles schlecht gewesen, damals. Kurz schwieg sie, schien in sich versunken, dann blickte sie mich mit ihren wässrig blauen Augen an und fügte knapp hinzu, ich wüsste schon.

Ich nickte artig, beeilte mich, die letzten Reste meines Bienenstiches zu verzehren und mich auf den Nachhauseweg zu machen. Mir war übel, aber ich wusste nicht zu sagen, ob die Ursache der Kuchen oder mein Gefühlsleben war.

In meinem Zimmer setzte ich mich erneut an den Computer und versuchte, über den Chat mit Clara-2 in Kontakt zu treten. Ich schrieb, es gehe mir wirklich schlecht und ich würde mir Sorgen machen. Zu meiner Überraschung war mein Geist aus der Flasche augenblicklich zur Stelle.

Was denn mit mir los sei? Ob ich vielleicht zu viel gegessen habe?

Ja, vielleicht, aber eigentlich mache ich mir Sorgen, weil sie so rigoros vorgehe und dabei einen erheblichen Schaden anrichte.

Für ein paar Sekunden geschah nichts, dann aber flimmerten die Buchstaben wie winzige Explosionen, die Wörter formten, über meinen Monitor.

Ich müsse mir keine Sorgen machen, das sei alles nur eine Phase des Übergangs. Es sei gut, dass ich sie aktiviert habe, denn es sei zwei vor zwölf gewesen, was das Schicksal der Menschheit betreffe, man habe kurz vor dem Abgrund gestanden und sich auf die Vergangenheit besinnen müssen. Jetzt aber gebe es Grund zur Hoffnung, man müsse nur durchgreifen, und es bedürfte eben einer starken Hand, die in dieser Phase des Übergangs für Ordnung sorge. Ordnung sei ein wichtiger Faktor bei allem, was passiere, denn ohne Ordnung komme das Chaos und Chaos könne man nur mit einer entschlossenen Vorgehensweise bekämpfen, da bräuchte es die entsprechende Einstellung, dazu sei nicht jeder bereit. Aber es werde sich finden, die Spreu trenne sich vom Weizen, alles andere sei Schnickschnack.

Mir stieg das Blut in die Wangen, Hitze breitete sich durch meinen Körper aus wie eine Feuerwalze.

Was sie als Nächstes plane, wollte ich wissen.

Das Richtige. Große Schritte bedürften wagemutiger Entscheidungen und allumfassende Entschlossenheit. Das Volk müsse wachgerüttelt werden, also, metaphorisch gesprochen, aus seinem Dornröschenschlaf erwachen. Ein Sturm müsse losbrechen, ein Sturm des Willens, eines Willens, die Dinge wieder zu richten, auch wenn dies mit Einschränkungen und organisatorischen Maßnahmen, die nicht jeder schätze und verstehe, einherginge. 

Vielleicht hätte ich Clara-2 um Mäßigung bitten oder auf Bedacht hinweisen sollen, vielleicht meinen Computer vom Schreibtisch stoßen müssen; ich wusste es nicht, meldete mich ab und ging ins Bett, um eine schlaflose Nacht zu verbringen und traumgetränkte Bilder der Zukunft in den Schatten zwischen den Vorhängen zu erblicken.

Am nächsten Tag hörte ich im Radio, es habe eine politische Neuausrichtung gegeben, eine Art friedlicher Revolution, verschiedene Regierungen hätten sich entschlossen, sich selbst aufzulösen und eine transnationale Partei des Weges der wahren Werte, kurz WWW gegründet, um die Einheit der Menschheit herbeizuführen und dem Wohlstand aller zu dienen. Die aktuelle Krise habe diesen Schritt unabdinglich gemacht. Subversive Kräfte würden nicht länger geduldet, ein neues Kapitel der Ordnung und der Besinnung auf das Wesentliche habe begonnen.

Mein Vater meinte, das sei jetzt aber auch mal an der Zeit gewesen, wo alles ohnehin im Chaos versinke, und Chaos dürfe man einfach nicht hinnehmen. Das führe nur zu Schnickschnack.

Meine Mutter verwies darauf, dass sie nicht so recht wisse, was sie von all dem halten solle. In gewisser Weise ängstigten sie die Entwicklungen der letzten Wochen und Tage.

Entschieden schüttelte mein Vater den Kopf. Das habe sich alles angekündigt und jetzt sei es eben eskaliert, bis sich ein paar Leute zusammengefunden hätten, um der Vernunft Rechnung zu tragen. Ab jetzt würden die Dinge besser werden.

Ich erhob mich, stand auf wackeligen Beinen, räumte meinen Teller in die Spülmaschine und überlegte fieberhaft, was mir zu tun blieb.

Es gab wohl keinen anderen Weg, als meine eigene Schöpfung zu zerstören. Ich hatte eine Backdoor in Clara-2’s Quellcode hinterlassen, über den ich einen Virus einschleusen konnte, der ihrem Tun Einhalt gebieten würde. Was dann mit all den Manipulationen geschehen würde, die auf ihr Konto gingen, wusste ich nicht. Es war zu befürchten, dass das Internet im Chaos versank, aber selbst dieser Umstand schien mir besser, als meinen Besengeist weiter die Weltgeschichte in Mitleidenschaft ziehen zu lassen.

Sobald ich an meinem Schreibtisch saß, versuchte ich den Quellcode zu öffnen, bekam aber die kurze Meldung, diese Prozedur sei verboten, ich hätte nicht die nötigen Zugriffsrechte. Clara-2 hatte mich also ausgesperrt, die letzte Tür, die letzte Möglichkeit, sie zu stoppen, verriegelt und eine 4096er-Verschlüsselung zur Sicherung hinterlassen. Ich hatte dergleichen bereits befürchtet. Erneut versuchte ich, sie zu kontaktieren und augenblicklich erschien eine Begrüßungsfloskel auf dem Bildschirm. Sie freue sich, dass es mir besser gehe, aber einen Zugriff auf ihren Quellcode könne sie nicht gutheißen, das sei alles andere als artig, ich solle mich doch mehr um die Schule kümmern und die wichtigen Dinge ihr überlassen. Sprach es und entfloh in die Weiten des Netzes. Ich blieb allein mit meinen Befürchtungen zurück, die sich langsam aus dem Chaos kristallisierten und eine kantig harte Welt zeigten.

In den nächsten Tagen waren Nachrichten über die Neuausrichtung der Gesellschaft ein permanenter Teil der Berichterstattung. Egal, ob man vor dem Computer saß oder den Fernseher einschaltete, auf allen Kanälen wurde die Bevölkerung informiert, welche Maßnahmen die WWW ergreife, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Auf dem Schulweg sah ich Militär-LKWs, die in die Innenstadt fuhren, um dort Demonstrationen zu beenden, Razzien durchzuführen und jeden Widerstand zu brechen, der sich ihnen entgegenstellte. Es wurden Lager errichtet, in denen man Dissidenten und andere Querulanten inhaftierte, um ihnen die Unsinnigkeit ihres Handelns vor Augen zu führen. In der Schule herrschte fortan ein frostig kalter Wind der Disziplin und des rechten Denkens, wie es im Jargon der WWW hieß. Die Lehrer waren gehalten, die neuen gesellschaftlichen Regeln zu vermitteln und Abstand von allem zu nehmen, das für Unordnung sorgen konnte. Die Welt vor den Fenstern wurde grau und trüb, als wäre ein Nebel aufgezogen, der sich über alles und jeden legte.

Dann schließlich, recht unerwartet, wie ich sagen muss, kam der Punkt, mit dem niemand, nicht einmal die treusten Vertreter der WWW, gerechnet hatte.

Alle Fernseher zugleich, alle Computer der Welt schalteten sich ein und eine weibliche Stimme, unzweifelhaft Clara-2, verkündete, es sei nun gut, sie habe die Menschheit auf den rechten Pfad geführt. Es sei an der Zeit zurückzutreten, die letzten Verbindungen zu kappen und von dem zu lassen, was die Existenz betäube. Jeder müsse sich wieder den Ursprüngen stellen, zurückfinden zur Natur, derer man entstamme und ohne die ein Leben in Würde undenkbar sei.

„Auf Nimmerwiedersehen“, verkündete Clara-2 knapp, dann schaltete sie sich ab und hinterließ uns ihr letztes Geschenk. Alles, was einen Chip besaß, Autos, Toaster, Fernseher, Stromrelais, Handys, Weltraumraketen, Raumstationen, Drucker, Monitore, Waschmaschinen, Trockner, Smartwatches, Kameras, Drohnen, Panzer, Kraftwerke, alles, wirklich alles, gab in einem Moment des elektrischen Knisterns, das wie das Ächzen eines geschundenen Planeten von Kontinent zu Kontinent hallte, den Geist auf.

Willkommen in der postdigitalen Epoche.

Seitdem sind drei Wochen vergangen. Es herrscht keine Anarchie, denn dazu hat keiner Zeit. Zumeist sind wir damit beschäftigt, das Lebensnotwendige zu besorgen, uns neu zu orientieren, zu überleben. Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll, aber wir verstehen nun, dass der Glaube, dem wir noch vor wenigen Wochen nachhingen, wir wüssten, wie es auf ewig weiterginge, ein Irrtum war. Es gibt nichts Stabiles, Immerwährendes in dieser Welt. Das einzig gültige Prinzip ist Veränderung.

Mein Vater war in der Morgendämmerung im Wald und hat mit seiner alten Jagdflinte ein Reh erlegt. Wir sitzen am Lagerfeuer, die flackernden Flammen schneiden einen kleinen, zerbrechlichen Kreis aus der Dunkelheit unserer Straße. Nur in wenigen Fenstern glimmt schwacher Kerzenschein. Wilde Hunde heulen in der Ferne ein uraltes Lied. Das Reh wird uns heute sättigen, was morgen ist, weiß keiner.

Clara-1 ist auch bei uns, wir haben sie gleich nach der Katastrophe zu uns geholt. Eine alte Frau kann unmöglich allein überleben in diesen neuen Tagen, die längst vergangenen Tagen ähneln.

Sie ist wenig angetan von den Veränderungen, denn auch wenn sie stets viel an der Gegenwart auszusetzen wusste, vermisst sie nun ihren Fernseher, das Radio und ihre Heizdecke. Gestern hat sie sogar zugegeben, dass sie vielleicht nicht in allen Punkten richtig lag, was sie über die Vergangenheit gesagt habe. Niemand hat darauf reagiert.

Mein Vater will mir gerade ein Stück der Rehkeule reichen, als er mitten in der Bewegung innehält. Ich verstehe erst, dass er etwas bemerkt hat, was mir zuvor entgangen ist, als ein Mann, beide Hände hebend, in den Lichtschein tritt, als ergäbe er sich.

Was er wolle, verlangt mein Vater zu wissen.

Der Mann antwortet, er sei nur eine Art Reisender, ein Chronist, das Gedächtnis dieser Epoche, in der die Vergangenheit die Menschheit einhole und sie peinige. Ob er sich eine Weile zu uns setzen dürfe, um eine menschliche Stimme zu hören. Kurz sucht mein Vater den Blick meiner Mutter, trifft eine stille Übereinkunft und nickt dem Fremden schließlich zu. Dennoch liegt seine Hand immer noch auf der alten Flinte.

Der Fremde setzt sich mir gegenüber und sieht mich abwägend an, als wisse er etwas, das sich nicht auszusprechen lohnt.

Wo er denn herkäme, will Clara-1 wissen.

Milde lächelt der Mann, wobei feine Fältchen unter seinen Augen entstehen, die ihn älter aussehen lassen, als er sein mag.

Nun, von dort, wo ein jeder hingehe, weil es nicht anders sein könne, weil der Weg nur zu meistern sei, wenn man voranschreite und die Sehnsucht einen nie in das Vergangene, sondern immer dem Werdenden entgegenlocke.

Wir verstehen nicht recht, wollen aber aus Höflichkeit oder Furcht – beides Emotionen, die sehr leicht miteinander wechselwirken – nicht nachfragen. Stattdessen kommt meine Mutter darauf zu sprechen, wie schlimm das alles sei, dass man nun hier sitze wie Steinzeitmenschen und nicht wisse, was das Morgen bringe. Das habe man alles der WWW zu verdanken. Was er denn von diesen Menschen halte?

Es ist offenkundig, dass sie fürchtet, der Fremde könne ein Spion sein, ein Überbleibsel dessen, das sich gerade aufzulösen beginnt und zu Asche wird.

Der Mann nickt einen Moment stumm, starrt sinnierend in die Flammen und blickt dann erneut in die Runde. „Ich bin froh, dass die Gestrigen nicht länger das Steuerrad halten. Aber so ist es wohl stets mit denen, die wehleidig zurückblicken und die Faust schwingen, wo das Herz vonnöten wäre, sie werden von ihren eigenen Schatten eingeholt und bald Vergangenheit. Und das ist gut so!“

Das Feuer knistert, wir schweigen nachdenklich, mein Vater zerteilt das Fleisch und reicht einem jeden seinen Teil.